"Kannibalisierung" als bewusste Wachstumsstrategie?

Begonnen von Filmgärtner, 26.05.21, 12:14

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Filmgärtner

Im Mai 2021 bietet Disney zwei vermeintliche Blockbuster in Kinos an. Besonders (exklusiv-exquisit) hohe Verleihprovisionen von über 53 % überraschen da nicht, bürgen doch historische Erfolge des "Mouse House" für Jahrzehnte währenden Kinokult ohne absehbares Ende.



Disney expandiert zu gerne: erst Disney-Land, schließlich der Aufkauf des "Star Wars"-Imperiums und nun (hervortretend aus dem Schatten von Corona) "Disney +": ein spektakulär vermarktetes Streaming-Portal für all das, was  jahrzehntelang Kinokassen und Verleiherkassen füllte.

Schon das Plus im Piktogramm signalisiert den Mehrwert gegenüber traditionellen Firmerlebnissen und Vertriebsmodellen - gedacht war es jedenfalls so.



Dabei halten sich trotz Kinoschließungen und Corona-lockdowns die Margen des Streaming-Portals beim mouse house in Grenzen. Auch beklagt der Konzern gewisse Umsatzrückgänge in 2021 trotz nachwievor unvergleichlich hoher Renditen.

Tendenzen in der Marktforschung und des demografischen Wandels stützen aber zweifelsfrei einen Strategiewechsel der major companies: Rezeptions-, Kommunikations- und Konsumverhalten der heranwachsenden Jugend haben sich fundamental verändert.



So lohnt ein langer Atem der Entrepreneure am Streaming- Markt, und diese nehmen dabei auch Flauten inkauf.



Umwälzend sind jedoch die Auswirkungen für die traditionelle Theaterbranche, die von Disney frenetisch nach Ende von Corona endlich wieder neue Blockbuster laut Anschreiben "angeboten" bekommt mit der beiläufigen Bemerkung, dass selbstverständlich die bisherigen Provisionen noch aus Zeiten der exklusiven Kinoverwertung von 53 % unangetastet blieben.



In der Betreiberlandschaft der Kinoszene rotiert wie gewohnt massive Unschlüssigkeit über die Folgen, begleitet mit dem Hang zu Loyalitätsbekundungen (etwa im Filmvorführerforum) zu jedem Verleiher zu allen Bedingungen und andererseits ersten Aufrufen zum Boykott nach Einsicht in das Szenario einer fortschreitenden Kannibalisierung.



Inwiefern der Kinostart sogar eines James Bond-Thrillers im Herbst dadurch relativiert wird, muss vor dem Hintergrund des Aufkaufs der MGM-Studios samt Filmstock durch den Streaming-Anbieter Amazon abgewartet werden.



Oder es müssen schon jetzt in der Kinoszene klare  Konsequenzen gezogen werden zu Motiven, Auswirkungen und Strategien, zumal wirtschaftliche Kannibalisierungseffekte eindeutig umschrieben sind:



https://bienngoccruise.com/market-cannibalization

Sioux Indy

Streaming und Video On Demand haben beide definitiv nur einen Vorteil.
Keine ewig nervigen Warnhinweise und Eigenwerbung so wie auf jeder Disc.
Wann verschwindet endlich dieses rotierende Meduim komplett vom Markt?
Das ist ja schon langsam altmodisch mit diesen nervigen rotierenden Discs.
Es ist ein absoluter Consumermist im Vergleich zum professionellen Kino.

A-Cinema

Wir machen ja viel Kino auf den Dörfern und da gibt es einfach keine andere Möglichkeit.
Zum Streamen sind die Verbindungen zu langsam und zu unzuverlässig, außerdem ist es manchmal mit den Lizenzen nicht klar.

Und DCI-Anlagen wären dafür ein Witz.
Ich frag mich sowieso, wieso es DCI-Anlagen im Open-Air gibt. Soweit ich weiß, werden sie in Kinos von Technikern eingemessen, theoretisch müsste das ja dann auch im Open-Air und wegen der unterschiedlichen atmosphärischen Bedingungen vor jeder Vorstellung passieren.

Die Scheibenqualität ist natürlich nicht vergleichbar mit der Qualität in "normalen" Kinos, aber bei diesen kleinen Kinos geht es auch oft mehr um das "gesellige Beisammensein" :)

Filmgärtner

Schön sind die Cover der DVDs und Blu ray-Discs mitnichten, hatte es doch die Laserdisc immerhin auf Größe und Umfang einer klassischen Langspielplatte gebracht und war auch im Wohnzimmer ausstellbar wie ein Stilleben.

Auch das intentionale Alleinstellungsmerkmal der Silberscheibe ab der DVD und 1997, qualitativ oder inhaltlich eine Alternative zum Fernsehprogramm mit seinen Werbeunterbrechungen zu bieten, wurde durch die Vermassung konterkariert (immer mehr Werbung, immer billigere Transfers von unzureichenden Filmzwischenmaterialien, Einführung von 1080p-Sendestandard).
Der Reiz dieses Mediums reichte bei mir in 25 Jahre gerade einmal zur Füllung eines einzigen Regalbodens: Glück und Lebensfreude brachte Heimkino mitnichten und die Einführung des Streamens wie auch von Youtube etc. übt stärkere Reize auf den Interaktionstrieb aus als das Auspacken und Einlegen von Silberscheiben mit Endlostrailern schon im Vorfeld.

Noch anachronistischer wirkt das Versenden verschlüsselter Festplatten in die Kinobetriebe, "digitaler Film" genannt und eigentlich nur aufgrund der Zugangssperre, also der Verschlüsselung, als "professionelles Kinos" deklariert.

Wie definiiert sich aber die Fallhöhe, die Differenz und der Mehrwert des "professionellen Kinos" zum "Heimkino", "Cubkino" etc.? Der Definitionsraum schmilzt beständig.

Für einen sehr niedrigen dreitstelligen Betrag bietet die Industrie solche Wunderapparate wie 4k UHD-Player, was man sich vor 30 Jahren nicht im Traum hätte ausmalen können.
Welche technischen Vorteil bringt nun der Aufwand der auf Ewigkeit von der Digital Cinema Initiative akzeptierte 2k-Panel- und Festplatten-Standard in den meisten Kinos?

"Technisch" ist die Vorreiterrolle der traditionellen Filmtheater eingeholt worden. Distributorisch zunehmend von den Streaming-Diensten.
Zwar stehen einzelne Roadshows noch im Scheinwerferlicht (Dolby Vision-, Imax- oder Doppel-3D-Laserprojektionen), aber eine gegenüber dem Heimkino zum Anschlag zu bringende haushohe Überlegenheit in der Bildgüte etwa der 3D-Filme aber auch (nach jüngsten Erfahrungen in Imax-Kinos) auf der Tonebene läßt sich nur noch mit größten Mühen und mit gegenüber den Besucherzahlen, aber auch dem künstlerischen Anspruch absurd anwirkendem Kostenaufwand behaupten.

Auf der Ebene der Repertoire-Filme oder auch auf vorführtechnischen Filmfestivals mit Altformaten wie 35mm oder 70mm steht dann nur noch das Marketing mit (als exklusiv) umschriebenem Filmrollenmaterial im Vordergrund.
Das Filmerbe ist zwar kostbar, aber nicht, wenn damit Augenwischerei betrieben wird. Denn auch Filmrollen altern (altern ehrlich), und neue Filmkopien sind (unehrlicherweise) weit entfernt von früheren Hochstandards des analogen Films - in den meisten Fällen nur noch von digitalen Zwischenträgern ausbelichtet und farblich so wie im Kontrast fast immer eine Entstellung klassischer Filmgüten abgebend.

So bleibt in der Neuzeit nur der gesellschaftliche relevante Aspekt: Austausch, Begegnungen, kollektive und diskursive Erfahrungen, Belebung von verödeten Standorten und Regionen, Rückeroberung auch zu Tode kommerzialisierter urbaner Räume mit alternative Kultur und Politik jenseits des Mainstreams.

Nachdem Bild- und Soundverfahren weitgehend ausgereizt sind, geht es in der professionellen Kinoarbeit von morgen mehr um Schlichtung oder Steuerung gestellschaftlicher Konflikte und sozialer Verantwortlichkeiten, könnte man glauben.

A-Cinema

Lieber Admin,

ich finde Ihren Artikel sehr gut.

Nach meinen Erfahrungen gibt es den Definitionsraum zwischen Kino und Homecinema oä. nicht. Er wird herbeigezaubert von Institutionen und Leuten, die nicht gerne zugeben wollen, dass sie viel Geld für Unsinn ausgegeben haben.
Diese Leute sind ausschließlich auf der "Kinoseite" zu finden.

Ich habe es vor Jahren prophezeit: die Heimkinotechnik wird lässig an der "hochprofessionellen" Kinotechnik vorbeimarschieren und genau das passiert.

Weiter ist es ein struktureller Fehler des "professionellen" DCI-Standards, Datenraten zu erfordern, die auch mit moderner Netzwerktechnik selten erreichbar sind.
Streaming bedeutet in diesem konkreten Fall in meinen Augen nicht, dass Filme über individuelle Anbieter in die Wohnzimmer kommen, sondern dass die Kinotechnik die Fähigkeit hat, Streams anzuzeigen. Das kann sie nicht. Es müssen extra Geräte aufgebaut und Anbieter angemietet werden, um diese unnötig hohe Datenrate über Nacht speichern und verarbeiten zu lassen.

Das aber würde für die kleinen Kinos eine erneute Ausgabe bedeuten und mehr Interessenten vom "Kinomachen" ausschließen.

Nur als Maßstab: unsere 35mm Maschinen haben wir damals geschenkt bekommen - das Kino konnte starten.
Jetzt braucht man mindestens 20.000€, damit ist die ganze Dorfkinolandschaft schon mal ausgeschlossen.




Filmgärtner

Vor einem Jahr zeichnete sich einerseits ein enttäuschendes Ergebnis für Disney plus ab, während Netflix Rekordumsätze verzeichnete.

Nun wächst ein neuer Streaming-Gigant heran?

https://www.tagesschau.de/wirtschaft/unternehmen/att-discovery-streaming-gigant-101.html

Filmgärtner

Netflix mit Umsatzplus im ersten Quartal 2022 (allerdings minimal rückläufiger Nutzeranzahl):

https://de.statista.com/statistik/daten/studie/196629/umfrage/umsatz-von-netflix-quartalszahlen/

Filmgärtner

13.04.23, 00:29 #7 Letzte Bearbeitung: 13.04.23, 00:33 von DCI sr.
Kannibalisierung in Hamburg?

Der dort ansässige Betreiber
Flebbe hatte erst kürzlich eine Astor Lounge Hafen City eröffnet, mit elegantem Foyer und einer kleinen Film- und Architekturbibliothek.

Das von ihm einst mitgegründete Multiplex CinemaxX am Dammtor scheint hingegen dahinzuvegetieren und mit Dumping;Preisen die Kannibalisierung voranzutreiben.

Im Überseequartier in Hamburg wurde nun ein Grundstück für die Bebauung eines Megaplexes freigegeben, um das sich zwar Flebbe ebenfalls beworben hatte, für das aber letztlich die von der Familie Theile betriebene Kinopolis-Gruppe den Zuschlag erhalten hatte: mehrere Säle mit insgesamt 2300 Plätzen sollen dort entstehen (entspricht etwa dem CinemaxX Potsdamer Platz in Berlin, so dass man noch immer von keinem Megaplex sprechen kann), ebenso wie die Astoren im Luxus Segment angesiedelt.

Womit die Überlebenschancen für das CinemaxX am Dammtor, das immerhin über einen sehr repräsentativen Festivalsaal (unter anderem für das Hamburger Filmfest und internationale Premieren) mit 1000 Plätzen verfügt, sicherlich nicht steigen werden.
Und auch Flebbe pflegt den Ductus "Jammern gehört zum Geschäft", nachdem in der ersten Jahreshälfte 2022 ein dreissigprozentiger Besucherrückgang konstatierbar war: nur er und seine Häuser aber mit einem Besucherrückgang von 18 % selbstverständlich sehr viel besser dastünden.

https://www.abendblatt.de/wirtschaft/article236379617/astor-eigentuemer-ich-befuerchte-ein-grosses-kino-sterben-kino-hamburg-energiekrise-inflation.html

Filmgärtner

Im eher links ausgerichteten "Freitag" beschwört Barbara Schweizerhof marktkapitalistische Maximen vom guten Produkt, das sich automatisch durchsetze: also nicht streaming wäre die Ursache einer Kinokrise, sondern selbstgemachte Probleme.
Das ist leicht gesagt und verdrängt, dass es sich um einen Verdrängniswettbewerb handelt, der in nicht natürlicher Weise (streaming) zum Verhängnis für Filmtheater wird:

https://www.freitag.de/autoren/barbara-schweizerhof/kino-in-der-krise-ist-streaming-wirklich-der-hauptfeind