In der "Frankfurter Rundschau" von Februar 2022 beklagt Daniel Kothenschulte in einem Interview mit dem neuen Festivalleiter zu hohe Gefährdung durch Covid 19 und unzureichende Arbeitsmöglichkeiten für die Journalisten.
Auszüge aus dem Interview:
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Frage:
Aber warum muss diese Erfahrung unter solchen Umständen stattfinden? Beim US-amerikanischen Sundance-Festival war man gerade sehr froh über die Möglichkeit, zusätzlich zu Kinovorführungen Online-Sichtungen anzubieten. Das will man sogar nach der Pandemie dort beibehalten.
Antwort:
Die Produzenten der Filme, die auf der Berlinale laufen, sind nicht bereit, online zu gehen. Das wäre dann ein anderes Programm geworden. Sundance hat auch einen Film dadurch verloren.
Frage:
Ein Teilangebot online hätte doch schon viel an Sicherheit gebracht. Das Festival argumentiert mit der großen Leinwanderfahrung, die man dem Berliner Publikum bietet. Aber warum wollen Sie der Filmpresse das Risiko der Hatz zwischen den Kinos zumuten?
Antwort:
Ich sehe kein Risiko, wenn alle Pressevorführungen im selben Kino laufen.
Frage:
Aber ich muss zwischendurch meine Artikel schreiben, da muss ich doch irgendwohin. Die Berlinale bietet lediglich eine Lounge für etwa 70 Leute an.
Antwort:
Ich habe Ihnen erklärt, wie wir es ermöglichen, dass Sie auch in dem Jahr den Wettbewerb ansehen können. Ich weiß nicht, wie viel Schreibraum die Berlinale für Journalisten bereithält. Diese Information habe ich gerade nicht.
Frage:
Pardon, ich finde schon, dass das einen Festivaldirektor etwas angeht.
Antwort:
Es ist nicht mein Job, den Presseraum zu organisieren, aber als ich das Festival früher als Journalist besuchte, fand ich immer Platz zum Arbeiten. Aber wenn Sie sagen, Sie können Ihre Arbeit nicht tun, geht mich das natürlich etwas an. Als Journalist gehören Sie zu den wichtigsten Vermittlern unseres Programms. Ich habe nachgefragt, wie das Angebot für die Presse ist: Wir haben trotz 50 Prozent weniger Presseakkreditierten die Kapazität der Presselounge nur um circa 20 Prozent reduziert.
Frage:
Ich hoffe, dass ich das überhaupt kann. Denn es braucht doch mehr als Filme: Man spricht mit vielen Leuten, sammelt Eindrücke und vermittelt den Geist eines Festivals. Ich bin nicht sicher, dass das gefahrlos möglich sein kann. Glauben Sie, das geht?
Antwort:
Ich habe den Eindruck, dass Sie die Antwort bereits haben.
Frage:
Nein, mich interessiert Ihre Antwort. Wollen wir diese Massenerfahrung unter Corona erlauben? Es kann doch nicht die Lösung sein, jeden Tag ein paar Leute herauszufischen, die sich angesteckt haben werden.
Antwort:
Glauben Sie denn, wir hätten uns all diese Wochen und Monate Arbeit gemacht, um Journalisten zu gefährden? Wir haben mit den Gesundheitsbehörden gesprochen und Konzepte erarbeitet, die genehmigt wurden. Wenn Sie sich dennoch nicht sicher genug fühlen, verstehen wir, wenn Sie sich gegen den Festivalbesuch entscheiden. Wenn Sie mich fragen, ob eine Festivalerfahrung möglich ist: Denken Sie an Venedig, schon im ersten Jahr der Pandemie, als viele noch nicht geimpft waren und die Risiken für die Gesundheit viel höher waren.
Frage:
Entschuldigung, das war im Sommer, eine wunderbare Erfahrung, es gab keine einzige nachgewiesene Infektion. Mit wie vielen rechnen Sie jetzt?
Antwort:
Das können wir nicht sagen. Die Fallzahlen sind höher als je zuvor in Deutschland. Aber die Be- hörden haben sich entschlossen, alles offen zu lassen. Wir müssen mit der Pandemie leben, und wir müssen trotz der Pandemie leben.
Frage:
Glauben Sie denn, dass Angst eine gute Atmosphäre ist, Kunst zu genießen?
Antwort:
Nein, wenn Sie Angst haben, bleiben Sie besser zu Hause.
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zit. aus:
https://www.fr.de/kultur/tv-kino/wir-muessen-mit-und-trotz-der-pandemie-leben-91317678.htmlDaniel Kothenschulte würde ich (bis auf weiteres) ausnahmsweise widersprechen wollen:
Warum ist das Risiko zu hoch bei einem endemischen Virus?
Da in den vergangenen Monaten unter den bekannten behördlichen Auflagen die Filmtheater geöffnet waren, ist es kaum begründbar, die Berlinale abzusagen. Meines Erachtens verfügt sie über ausreichend Sitzkapazitäten in der Stadt, um befürchteten Gefährdungen oder versäumten Vorstellungen vorzubeugen.
Sämtliche Antworten des Festivalleiters erschienen mir treffend und auch ehrlich.
Jetzt, wo in Europa sämtliche Maßnahmen fallen, ein Kulturfestival mit Verweis womöglich auf "Zero Covid" absagen zu wollen, widerspricht der gesamtgesellschaftlichen Praxis notwendiger Öffnungen.
Es war laut dem oben interviewten Festivalleiter der Wunsch auch der Produzenten, diese Veranstaltungen in Filmtheatern abzuhalten, sofern die heutigen Spielstätten diese Bezeichnung noch verdienen.
Zumeist sind die Filme in der Komposition und im Betrachtungs- und Hörwinkel auf größere Auditorien und Bildwände abgestimmt, in denen Ablenkungen durch den Umraum vermieden werden, sodass die ausschließliche Fokussierung auf Filminhalte im Vordergrund steht.
Auch das Anhalten, Unterbrechen, Vor- und Rückwärtslaufen entspricht nicht der gleichberechtigten Rezeption, welcher sich der normale Premieren-Gast unterordnet.
Es gibt wissenschaftliche Studien zu wahrnehmungsphysiologischen Eigenheiten und eben auch zu industriellen Normungsprozessen, nach welchen Gerätschaften in Luminanz und Chrominanz kalibriert werden (Leuchtdichte von 48 Candela pro Quadratmeter oder selektive Filmauswertung über Dolby Atmos-Mischungen beispielsweise), welche dem Wunsch der Produzenten und der Kreativen entsprechen.
Schon wieder - wie einst in den 60er Jahren - erhebt sich die Gilde der Kritiker über den Apparat (über die Knechtschaft der Kinoerfahrung), übersieht dabei aber ökonomische Bedingungen ihrer Fortexistenz, die in gleichem Maße klassische Filmfestivals betreffen.
Aus den Reihen der Filmkritik gibt es allenfalls zur Existenzfrage der Kinos das Credo "Kino wird es immer geben" oder, wie ebenfalls schon gelesen, "wer weiß, wie viele Filmtheater nach der Pandemie noch existieren werden".
Beide Annahmen laufen leider an der Realität vorbei.
Man sollte dann von Seiten der Redaktionen doch den eigentlichen Produzenten, Betreibern und Festivalmachern die Freiheit zugestehen, zu öffnen, wann und wo sie es für richtig halten und die bedrohte Ware in solcher Form zu veröffentlichen, dass sie noch von einer relevanten Öffentlichkeit im ursprünglichen Sinne des Wortes wahrgenommen wird.
Leider ist eben doch vielen Rezensionen anzumerken, das Erstsichtungen unter technisch und wahrnehmungsphysiologisch eingeschränkten Bedingungen stattfanden und dann zu analytischen Verschlüssen führten (habe solche Artikel gesammelt, nach welchen man nicht wenigen Rezensenten fortgeschrittene Blind- und Taubheit respektive technische Unwissenheit unterstellen darf. - Einige wenige machen aber immerhin selber Musik oder betätigen sich technisch und sollten davor gefeit sein).
Die Kampagne der Berlinale-Leitung (und der Staatsbeauftragten), dieses Festival als Zeichen der Kinointegration zu deklarieren, ausnahmslos geltend sowohl für das Publikum als auch für das Fachpublikum und die Journalisten (also Zero streaming), halte ich für unterstützungswert.
In Anbetracht eines Escape-Virus und einer normalen Infektionserkrankung der Atemwege sollte m.E. das Insistieren auf eine potenzielle Ansteckungsgefahr in den Sälen zurückgestellt werden.
Ich hätte mir gewünscht, das Interview wäre vielleicht anders verlaufen.
Ausnahmsweise mag man da BLICKPUNKT:FILM beipflichten:
https://www.facebook.com/100074587509314/posts/139605738535676/