Royal Palast und City im Europacenter - der 70mm-Lichtspieltempel in Berlin: Chronik

Begonnen von Filmgärtner, 25.02.25, 00:36

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Nachwievor in den sozialen Medien Berlins stark diskutiert, ist diese Wallfahrtsstätte des Panorama-Kino offenbar aus der Erinnerung nicht herauszubekommen.
Wir beginnen mit der Vorgeschichte. (Derzeit bemüht sich auch der Verein Kinomuseum Berlin um einen kleinen Nachbau en miniature der Saal- und Vorführraumtechnik mit dann original zu zeigenden 70mm-Filmen - dazu später mehr).

Historisch ist der Platz im modernen Kaiserlichen Berlin zurückzuverfolgen als Gutenberg-Platz von 1889 (nach dem Erfinder des Buchdrucks benannt), welcher 1892 in Auguste-Viktoria-Platz umbenannt wird und diesen Namen bis 1947 trägt. Dort wird von Hans Schlechten, dem Architekten der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche im selben Baujahr wie die Kirche gegenüber ein "Zweites Romanisches Haus" erreichtet: wir schreiben das Jahr 1899. Auf dem Romanischen Forum entsteht auch ein später weltberühmtes Romanisches Caffee: diese "Romanische Caffee" siedelt dort an und gilt als bekannter Literaten, Journalisten- und Künstlertreff, bis 1943 dort erste Bomben fallen.

Derzeit beherbergt das heutige Europacenter wieder eine Künstlerausstellung, welche der Geschichte des Romanischen Caffees gewidmet ist: https://www.visitberlin.de/de/event/das-romanische-cafe-im-berlin-der-1920er-jahre

Noch gibt es am Auguste-Viktoria-PLatz keine Kinos, man muß sich mit den einen Steinwurf entfernten Tauentzien-Palast (Nürnberger Strasse) oder dem zu architektonischen Gegenentwurf zu Schlechten, dem Capitol am Zoo, begnügen - immerhin Kinotempel von Weltrang.

Ein Europacenter von heute (oder von 2028? Wenn der Bau des Europa-Centers II beginnt) war in jener Zeit kaum vorstellbar: erst als 1945 alles in Trümmern lag, mußte das Nachkriegsberlin eine Lösung finden. Und diese ließ wie anderenorts ebenfalls, etwa am Kurfürstendamm, lange und oft bis Mitte der 1960er Jahre auf sich warten, bis neue Bauvorhaben des neuen Westberlin ein "Schaufenster zur Welt" propagierten, um der Insellage der geteilten Stadt kommerziell und ideologisch neue Impuse zu verleihen,


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Auf den weggeräumten Trümmern des Romanischen Forums gastierte nach dem Krieg ein derbes Catcher-Zelt inmitten restlicher Ruinen: https://www.deutsche-digitale-bibliothek.de/item/52RP6GYXLMWHPOSH2W75CRH5OPVJAUTY. Je mehr die Trümmer weggeräumt waren, desto eher konnte in die Zukunft geplant werden. Das erste Kino am Breitscheidplatz erweckte jedoch von Anfang an (Eröffnung 1959) den Eindruck eines Provisoriums, hatten doch bereits zwei oder drei Jahre zuvor Zoo Palast und MGM-Theater als repräsentative Neubauten eröffnet.
Im ersten Betriebsjahr nannte es sich "Aktualitätenkino" mit entsprechend angepaßtem Programm (von der gleichnahmigen AKI-Aktualitäten-Kino Betriebs GmbH mit dem Theaterleiter Härder, mit 395 Plätzen so wie Philips FP5-Projektoren und CinemaScope-Bildwand eingerichtet. Aufgrund der Firmenumbennennung 1959 durch die Aki-Aktualitäten-Kino, Theater Hamburg/Nürnberg oHG in Frankfurt/M. nannte es sich bereits im Jahr darauf TAKI ("Tageskino") und wurde in dieser Weise bis 1963 betrieben, bis also der Startschuß zum Bau des Europa-Centers begann.



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In Westberlin machte sich der Kaufmann Karl-Heinz Pepper die günstigen Abschreibungsmodalitäten zunutze. Er hatte nach dem Krieg Spielautomaten und Fernseher verkauft, war Ko-Neugründer des Theaters am Kurfürstendamm im Zuge der Wiedereröffnung und hatte bereits in den 50er Jahre das Kaufzentrum Siemensstadt als erstes Einkaufszentrum Berlins eröffnet.
Aufgrund seiner Erinnerungen eines New York-Besuch schwebte ihm ein "kleines Rockefeller-Center" vor und holte sich hiefür die geeignesten Architekten und potentesten künftigen Mieter heran.


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Foto: Grundsteinlegung mit Bauherr Pepper, dem Regierenden Bürgermeister Willy Brandt und seinem Senator Egon Bahr.

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Die "Stadt in der Stadt", das sogenannte "Haus der Nationen", kurz Europacenter, war einmal für die "Frontstadtbewohner" die Oase des Glücks

(ein "Westberlin-Paradies"): zwar konnte Bauherr Karl-Heinz Pepper kein seiteres Theater mehr aufgrund der Konkurrenz zu "Theater und Komödie" am Kurfürstendamm integrieren - und das "Palace Hotel" fungierte wohl nur als schneller Ersatz das ursprünglich in den  Bau-Skizzen erkennbaren Theaters Aber seinem Projekt "Kleines Rockefeller Center", dem künftigen Europacenter, wurde seitens der Filmproduzenten MCS KG München und der amerikanischen Cinerama Incorporation seit 1963 ein alle Rahmen sprengendes Doppelkino hinzugefügt - ja, ganz demonstrativ ein Gegenpol zur Gediegenheit des "Zoo Palast"-Komplexes von 1957. In ihrer Art der bezwingenden "Sehmaschine" wären die beider Großkinos im Europacenter an Modernität noch heute unübertroffen: im "Royal Palast" befand sich laut
Guiness-Buch der Rekorde die größte Panorama-Bildwand der Erde - ein tiefer Leinwandbogen wölbte sich wie ein Horizont dem Gaste entgegen. Und ich im "City im Europacenter" sorgte eine kubistische Akustikdecke für höchste Konzertsaal-Ansprüche.

Neben den Filmfestspielen folgten Premieren kolossaler Schauspektakel auf

70mm-Filmmaterial: DOKTOR SCHIWAGO (166 Wochen Laufzeit), 2001: ODYSSEE IM

WELTRAUM (der Jahrestag der Weltpremiere, Washington D.C., fällt ebenfalls auf den heutigen 2. April),

DIE TOLLKÜHNEN MÄNNER IN IHREN FLIEGENDEN KISTEN, THE SOUND OF MUSIC, KRIEG DER STERNE,

ALIEN, BLADE RUNNER oder INDIANA JONES UND DER TEMPEL DES TODES.

Für SCHIWAGO reisten westdeutsche Besuchergruppen per Bus an.

Im Center-Inneren residierte dagegen eine 1000 qm grosse Eisbahn für ganz

Berlin. Auf dem I-Punkt thronte das Europa-Planetarium und eine begehbare

Aussichtsplattform. Im Anbau de Multivisions-Schau zur Geschichte

Berlins. Und im Hochhaus befanden sich Büros der Filmfestspiele und der

Berliner Festspiele GmbH.



Zum 50. Jahrestag ist der (teils unvermietete?) Flachbau des Europacenter

durch ein Banner des japanischen Elektronikriesen Samsung verhüllt: ein 50

Meter breites Smartphone entführt uns zu anderen Wahrzeichen der Moderne.

Am Fundament des gewaltigen Royal Palast- und City-Kinos spottbillig nun zu haben: 10 000 Breitfilmkonserven auf DVD, dazu Waschmaschinen, iPhones und USB-Sticks in einem Saturn-Markt. Und an Stelle der Eisbahn

bestaunt man eine Art Tümpel.

Solche Ware, scheint einem, gibt es selbst in der Provinz besser und auch

reichhaltiger. Mit menschlicher Kultur hat es wenig gemein! Eher noch mit dem Einfall der Barbaren ins altehrwürdige Rom.

Wir versuchen im Kinomuseum Berlin e.V. viele Gerättypen, die Art der Bogenleinwand und auch die Filmklassiker aus ROYAL PALAST und des CITY IM EUROPACENTER reaktivieren und jenen in den 60er und 70er Jahren unvergleichlichen Erlebnissen nachspüren. Jeder ist herzlich eingeladen, mitzumachen oder das Projekt zu fördern.